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Titel
Friedrich Jenni. Der Gukkasten-Kalender


Herausgeber
Humbel, Stefan
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabine Schlüter

Friedrich Jenni (1809 – 1849) war in den 1840er-Jahren in Bern als Buchhändler und -drucker, Verleger, Publizist, Redaktor und Illustrator sowie als Politiker tätig. Nach einer Buchhändlerlehre in Süddeutschland hatte sein Vater Christian Albrecht Jenni ihm 1834 die Verlags- und Sortimentsbuchhandlung übergeben, die Friedrich 1839 um eine Musikalienabteilung erweiterte und ab 1841 unter dem Namen Jenni, Sohn führte. Seine radikalliberale Politisierung setzte wohl erst spät, zu Beginn der Vierzigerjahre ein, die von den weltanschaulichen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Bildung der politischen Parteien und der dadurch auflebenden öffentlichen Meinungsbildung geprägt waren. 1843 übernahm Friedrich Jenni von seinem Vater auch die Buchdruckerei und damit Druck und Verlag der Wochenzeitung Der Gukkasten, die seit 1840 von den Berner Zeichnern und Karikaturisten Heinrich von Arx, Heinrich Guyer und weiteren Personen herausgegeben worden war. Friedrich Jenni schrieb und zeichnete fortan selbst die Inhalte und gab dem Blatt den Untertitel «Zeitschrift für Witz, Laune und Satyre». Ab 1845 brachte Jenni ausserdem den Gukkasten-Kalender heraus. Dessen zwei erschienene Jahrgänge 1845 und 1846, die den Untertitel «für das Jahr, nicht der Gnade sondern hoffentlich des Rechts und der Vernunft» trugen, hat der Germanist Stefan Humbel neu ediert. Im ersten Teil der Publikation sind die beiden vollständigen Jahrgänge als Faksimile wiedergegeben, den zweiten Abschnitt bilden der anschliessende Kommentarteil sowie das Nachwort Humbels. Das Hauptanliegen des Herausgebers besteht nach eigener Angabe darin, Friedrich Jenni als Person und vor allem dessen Gukkasten-Kalender als «weitgehend vergessenes Zeugnis der bernischen und schweizerischen Literaturszene der Regenerationszeit» wieder in Erinnerung zu rufen. Jenni und sein Gukkasten-Projekt sind nämlich laut Humbel von der Forschung bisher zumindest übersehen, wenn nicht bewusst übergangen worden. Aus diesem Grund musste er, ausgehend von der spärlichen Literatur zu Jenni und seinen Tätigkeiten, tiefer recherchieren, wobei ihm freilich seine Kenntnisse des historisch-publizistischen Umfelds aus der mehrjährigen Mitarbeit an der Berner historisch-kritischen Gotthelf- Edition zugutekamen. Humbel zufolge verband Jenni mit dem Gukkasten-Kalender das Ziel, «sich über das wohl populärste literarische Genre der Zeit, den Volkskalender, Zugang zu neuen Leserkreisen zu verschaffen». Demgemäss ist die Vielfalt der Textarten im Gukkasten-Kalender gross: Neben dem Kalendarium enthält er kurze Witze; satirische Anekdoten; lehrhafte Gedichte; Ereignisberichte; in ihrer Schärfe unterschiedlich kritische Kommentare zu Personen des öffentlichen Lebens und Behörden, zum Katholizismus, insbesondere zu den Jesuiten; politisch-gesellschaftliche Glossen und Kommentare sowie längere Analysen zu Wirtschaftsthemen und der politischen Verfassung. So dient der 90 Seiten umfassende Kommentar in erster Linie als Hilfe zum Leseverständnis. Humbel erklärt jeweils historische Begriffe und Hintergründe, weil sich viele der Inhalte heutigen Leserinnen und Lesern nicht mehr unmittelbar erschliessen. Hilfreich sind dabei vor allem die knappen, präzisen Erläuterungen der konfessionellen und politischen Zusammenhänge, die Identifikation von Personen sowie die Quellenangaben einzelner Texte, die Jenni nicht selbst geschrieben, sondern übernommen hat.

Mit Querverweisen zu Themen und Personen, die an anderer Stelle genannt werden, unterstützt Humbel zudem das Lesen auf systematischer Ebene, sodass auch Verbindungen zwischen den beiden Kalenderjahrgängen deutlich werden. Leider fehlt ein Register, das die Suche zumindest nach Personen vereinfachen würde.

Die Übersetzung nicht nur historischer, heute ungebräuchlicher Wörter, sondern auch von Mundartausdrücken und Helvetismen legt nahe, dass der Autor mit der kommentierten Edition über das Deutschschweizer Fachpublikum hinaus auch anderssprachige und deutsche interessierte Kreise ansprechen will und womöglich auch eine jüngere Leserschaft zu erreichen sucht. Anders lässt sich z.B. die Erläuterung, dass Rahm gleichbedeutend mit Sahne ist, nicht erklären (S. 257). Dabei sind die Kommentarebenen nicht immer einheitlich. So wird beispielsweise eine auch heute geläufige Redensart erläutert (den Bock zum Gärtner machen, S. 256). Andererseits werden Bibelzitate generell kenntlich gemacht, doch gerade zu einem Witz, bei dem die Kenntnis der Quelle (Joh. 16,16) für das Verständnis der Pointe wichtig wäre, wird sie nicht genannt (S. 283). Formal kommt die Edition in ansprechender Form mit klarer Ästhetik in Typografie und Layout daher.

Im 17 Seiten umfassenden Nachwort analysiert Humbel den Gukkasten-Kalender aus literarhistorischer Perspektive. Er wird dabei seinem Anspruch gerecht, Jennis «Einbettung in sein publizistisches Umfeld» darzulegen, indem er aufzeigt, wie Gukkasten- Zeitung und -Kalender einem von dem Berner Publizisten und Verleger wohlüberlegten, fein abgestimmten Plan folgen. Dieses Gukkasten-Projekt entschlüsselt Humbel als Konstruktion einer aufgeklärten Öffentlichkeit, bei der Jenni, der durchwegs unter vollem Namen publizierte, selbst im Mittelpunkt stand und als Referenzpunkt für die von ihm beabsichtigte aufklärerisch-kritische Meinungsbildung fungierte. Gern hätte man noch etwas mehr zu den Illustrationen (Holzschnitte) erfahren, die doch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Konzept des Gukkasten-Kalenders darstellen, doch ist die Quellenlage anscheinend zu dürftig. Eine historisch-politische Einordnung gehört nicht vordergründig zu den Zielen des Herausgebers. Doch das Erscheinen des Gukkasten-Kalenders fiel zeitlich zusammen mit der Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Katholisch-Konservativen und Radikal-Liberalen. Über den ersten Höhepunkt dieses Konflikts, den Freischarenzug vom Dezember 1844, berichtet Friedrich Jenni als Teilnehmer im Gukkasten-Kalender von 1845. Die kommentierte Edition dieser erstrangigen Quelle bietet daher einen hervorragenden Einblick in die Haltungen und Ereignisse aus radikal-liberaler Sicht kurz vor der Gründung des Bundesstaates.

Zitierweise:
Sabine Schlüter: Rezension zu: Humbel, Stefan (Hrsg.): Friedrich Jenni, Der Gukkasten-Kalender. Zürich: Chronos 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 3, 2016, S. 69-71.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 3, 2016, S. 69-71.

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